Wanzenkinder

Marie, wollte er schreien, stattdessen kam ein Röcheln aus seinem Hals, das nicht ihm zu gehören schien. Endlich gelang es ihm, zum nächsten Lichtschalter zu gehen, aber auch der funktionierte nicht. Keiner wird funktionieren, flüsterte er sich selbst zu. Keine Lampe wird Licht spenden. Ich bin auf meine scheiß Minilämpchen angewiesen. In der ersten Eingebung wollte er die Polizei rufen. Alex hatte bereits das Handy in der Hand, als er Maries Lachen hörte. Das Lachen kam von weit oben. Es klang nicht fröhlich. Es klang danach, als würde Marie jemanden verhöhnen. Wenn ja, wen? Waren Einbrecher bei ihr und versuchte sie, diese zu verunsichern? Alex wusste, wenn Marie in Gefahr war, würde er ihr nur helfen können, wenn man ihn nicht bemerkte. Er schaltete sein Handy auf lautlos, schlich zur Treppe und hielt sich mit der rechten Hand am Pfosten des Geländers fest. Die Taschenlampe machte er aus und steckte sie in die Hemdtasche. Jetzt war es stockdunkel. Er gab sich ein bisschen Zeit, um seine Augen wenigstens ansatzweise an die Dunkelheit gewöhnen zu können.

Sie hatten die Holzstufen mit dickem Teppich belegt, was er immer etwas störend empfunden hatte. Doch wie dankbar war er nun seiner Frau, die störrisch darauf bestanden hatte, das Haus in den Grundsätzen so herzurichten, wie es war, als ihre Eltern hier gewohnt hatten. Trotzdem streifte er sich noch die Schuhe ab und begann langsam, Stufe für Stufe, in die Nähe seine Frau zu kommen. Im ersten Stockwerk überlegte er kurz, ob er ins Zimmer von Jan und Jonas sehen sollte. Aber die
Befürchtung, falls sie dort waren und einer von ihnen aufwachen würde, hielt ihn zurück. Sie würden etwas sagen, vielleicht rufen, jedenfalls würden die da oben das hören und wer weiß was tun. Und wahrscheinlich schliefen sie gar nicht in ihren Betten, sondern waren mit ihrer Mutter zusammen den Einbrechern ausgeliefert. Er stellte sich den zarten Jonas vor, wie er sich hinter Jan versteckte und wie Jan einen auf starken Mann machte, um ja keine Angst zu zeigen. Irgendwie beruhigte ihn dieses Bild und er hörte wieder seine Frau, die sagte:

»Ja, ich weiß, dass es ist, wie es ist. Ich weiß, dass es nichts ändern wird, gleichgültig, was ich sage. Aber ich habe nicht gewusst, dass es so schwer wird. Dass es so weh tut. Warum kann es nicht anders sein? Warum die Zwillinge? Alex wird nichts verstehen. Er hat die ganzen Jahre nichts verstanden. Was sagst du? Ich hatte meinen Spaß mit ihm? «

Sie lachte wieder dieses Lachen. Ihm lief es eiskalt über den Rücken. Er begann zu frieren. Sie muss verrückt geworden sein. Bestimmt. Er fragte sich, was sie mit seinen Söhnen gemacht hatte. Konnte es sein, dass sie ihnen etwas antat?

Tod im Land der tausend Seen

„Sie schlängelte sich durch die dicht stehenden Buchen. Heimkehr hatte er gesagt. Irgendwann einmal. Nach dem Geschäft. Einmalig, hatte er gesagt. Zu ihr. Zu seiner Geliebten. Eine einmalige, niemals wiederkehrende Möglichkeit. Etwas vom großem Kuchen abbekommen. Endlich. Sie hatte ihm geglaubt. Sie glaubte ihm immer noch. Sie liebte ihn. Mehr als Frank, ihren kleinen Bruder. Den sie sein ganzes Leben lang schon liebte. Ein letztes Treffen, ausgerechnet hier. An dem Platz, an dem ihre Liebe einmal begann. Handschlag würde reichen, auch das hatte er gesagt. Nun gut, hatte sie gesagt. Ein Handschlag und dann machen wir uns auf den Weg. Wenn nicht bald, dann bleibe ich. Ich kann Paul nicht mehr in die Augen sehen. Er merkt etwas.“

Ostseekiller

»Weg, Diana!« Markus Jännecke war endlich bei seiner aufgeregten Hündin angekommen und griff ihr in das Halsband. Er zog sie beiseite. Jetzt hatten alle den Blick frei auf das, was Olaf aus der Hand geworfen hatte. Einen Dreizack, an dessen Ende lange dunkelblonde Haare wehten.
Lena sah auf ihre Uhr, es war genau 11.17 Uhr. An einem Mittwochvormittag also, dachte sie noch. Gut, dass ich eine Uhr trage, Handy geht ja schlecht, wenn man nackt ist, dachte sie weiter. Und wer ruft jetzt die Polizei? »Ich mach das!«, schrie sie. »Ich hole Hilfe!« Die Schritte bis zu ihrem Rucksack zählte sie. Die Zahl wiederholte sie, bis endlich ein Sanitäter neben ihr stand und ihr eine Spritze gab.

»87«, sagte sie, »es sind 87 Schritte bis zum Tod.«

Mariannes Himmelpforte

Was verbinden? Den Kopf verbinden, das Herz verbinden? Oder besser abbinden, bis es nicht mehr weh tut?

Doch steige ich aus, ohne Verbandszeug. Ich bin Marianne, war es schon immer und muss sehen, wo ich hingekommen wäre. Wo ich hingehörte, eigentlich. Wie es üblich war. Muss sehen, wie ich meine letzten Tage verbracht hätte, wenn es nicht beendet wäre. Zwei Hunde laufen mir vor die Füße, zwei große langhaarige Schäferhunde. Ich mag Tiere, wie nichts sonst auf dieser Welt. „Heinrich“ höre ich einen Ruf, „Heinrich“, wieder, lauter, ein Befehl nun. „Himmler, kommt her, zu mir. Kommt zum Herrchen!“. Die Stimme bekommt ein Gesicht, einer der Hunde bellt, der andere wedelt mit dem Schwanz. Die Stimme schreit: „Ihr blöden Hunde!“ Beide Hunde laufen zu dem Gesicht, werfen sich hin, freuen sich.

Andere Gesichter stehen dabei, hören, wie das eine Gesicht Heinrich und Himmler belehrt, wie die Stimme ihnen sagt, sie sollten nicht zu Fremden, könnte doch sein, dass diese dreckiges Blut haben, könnte doch sein, Heinrich und Himmler würden sich ins dreckige Blut verbeißen und sich den Magen verderben. Die anderen Gesichter gehen leise weg, wollen nicht die sein, an denen sich der Magen verdorben wird…

Abschied einer Illusion

„Ich heiße Mischa, keine Angst, ich bin kein Russe, obwohl. Wäre nicht das Schlechteste ein Russe zu sein. Meine Frau nannte mich Mischa, wie den Bären. Sie ist tot und der Bär folgt, bald hoffentlich. Noch einmal so tanzen wie du heute und dann auf den Friedhof. Das wärs Mädchen. Ein guter Zeitpunkt, um Tschüß, um – ihr könnt mich mal – zu sagen. Meine Frau meinte immer, ich spinne. Trotzdem liebte sie mich, sie machte alles mit. Alles, auch als ich im Knast war, im Zuchthaus, hat sie sich keinen anderen genommen. Sie sollte sich scheiden lassen, man wollte ihr die Kinder sonst wegnehmen.“

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